Psychologische Beratung
und Therapie, Erwin Brückl
GESCHICHTEN....
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Über die Liebe... |
Ein
unzufriedenes Paar |
Zehn Kuchenstücke |
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S. 94:
Als der italienische Dichter Dante die >Göttliche Komödie< schrieb, sagte
er: An dem Tag, an dem der Mensch der wahren Liebe erlaubt, sich zu zeigen,
werden die wohlgeordneten Dinge heillos durcheinandergeraten und alles aus dem
Gleichgewicht bringen, was wir für sicher, für wahr gehalten haben.
Die Welt wird wahr sein, wenn der Mensch
zu lieben vermag - bis dahin werden wir in dem Glauben leben, wir würden die
Liebe kennen. Wir bringen jedoch nicht den Mut auf, uns der Liebe als dem zu
stellen, was sie ist.
Die Liebe ist
etwas Wildes. Wenn wir versuchen, sie unter Kontrolle zu halten, zerstört sie
uns. Wenn wir versuchen, sie einzusperren, macht sie uns zu Sklaven. Wenn wir
versuchen, sie zu begreifen, stehen wir verloren und verwirrt da.
Diese Kraft ist auf Erden, um uns Freude
zu geben und uns Gott und den anderen Menschen näherzubringen. Und dennoch, so
wie wir heute lieben, kommt auf eine Minute Frieden eine Stunde Angst.
S. 332:
Im Krankenhaus hatte die Liebe zu mir gesprochen: »Ich bin alles und nichts.
Ich bin wie der Wind und kann nicht hinein, wo Fenster und Türen geschlossen
sind.«
Ich
hatte der Liebe geantwortet: »Aber ich bin offen für dich.«
Und sie hatte
zu mir gesagt: »Der Wind kann nicht in dein Haus, da Fenster und Türen
verschlossen sind. Die Möbel werden sich mit Staub bedecken, die Feuchtigkeit
wird am Ende die Bilder zerstören und die Wände fleckig machen. Du wirst
weiteratmen, du wirst einen Teil von mir kennen - aber ich bin kein Teil, ich
bin das Ganze, und das wirst du nie kennenlernen.«
Ich bemerkte, daß die Möbel verstaubten,
die Bilder vor Feuchtigkeit verschimmelten, und mir blieb nichts anderes übrig,
als Fenster und Türen zu öffnen. Als ich das getan hatte, fegte der Wind
hindurch. Ich wollte meine Erinnerungen behalten, schützen, was ich unter
solchen Mühen erreicht hatte, aber alle Dinge waren verschwunden und ich selbst
leer wie die Steppe.
Ich begriff, warum Esther hierher gekommen
war: um leer zu werden wie die Steppe.
Und weil ich leer war, kam der Wind
herein und brachte Neues mit sich, Geräusche, die ich nie zuvor gehört hatte,
Leute, mit denen ich nie zuvor geredet hatte. Ich war wieder von der
Begeisterung von einst erfüllt, da ich mich von meiner eigenen Geschichte
befreit, den >Resignationspunkt< überschritten, in mir einen Mann
entdeckt hatte, der imstande war, andere so zu segnen, wie die Nomaden und
Schamanen der Steppe ihresgleichen segneten. Ich fand heraus, daß ich viel
besser und zu viel mehr fähig war, als ich gedacht hatte, und daß das Alter nur
den Rhythmus derer verlangsamt, die nie den Mut hatten, ihren eigenen Rhythmus
zu finden.
Ein
unzufriedenes Paar.....
(Aus Uli Olvedi, "Die Stimme des Zwielichts", S.: 320f)
Ein anderes Mal, als Maili die Beine des alten Rinpoche gerade mit einer von
ihr selbst frisch zubereiteten, duftenden Salbe einrieb, kam ein junges Paar
herein. Der Rinpoche brummte in verschiedenen Tonlagen und kratzte sich wohlig.
Sein schläfriger Blick hüllte Maili ein. Sie hatten keinen Besuch erwartet. Das
junge Paar war ohne Anmeldung zu den Räumen des Rinpoche geschlichen und von
seinen Mönchen nebenan offenbar nicht bemerkt worden. Die beiden vollzogen ihre
drei Niederwerfungen mit einer Geschwindigkeit, die auf ein geschäftiges Leben
schließen ließ, in dem keine unnötigen Dinge Platz hatten. Die junge Frau kam
sofort zur Sache.
"Vor zwei Jahren fragten wir Shonbo Rinpoche, ob wir heiraten
sollten", sagte sie in vorwurfsvollem Ton, "und er riet uns dazu. Es
war kein guter Rat. Jetzt stehen wir vor der Scheidung."
Der alte Rinpoche kratzte mit sanftem Eifer die Unterseite seines Kinns, wobei
er die Unterlippe hochschob und den Hals streckte wie eine Katze, die sich
kraulen lässt. Die Frau und der Mann warfen einander unsichere Blicke zu. Maili
versuchte, beruhigend zu lächeln. Als er sich schließlich genügend gekratzt
hatte, brummte der alte Mann etwas und Maili übersetzte: "Aber er hat doch
nicht gesagt, dass ihr streiten sollt."
Das Paar schwieg.
"Na also", sagte er mit zufriedenem Gesichtsausdruck.
"Rinpoche-la hat >na also< gesagt", übersetzte Maili "Habt
ihr noch Fragen?"
"Sollen wir uns lieber nicht scheiden lassen?", fragte der junge
Mann. Die junge Frau zog ärgerlich die Augenbrauen zusammen. Maili übersetzte.
Der alte Rinpoche kicherte und begann einen Ellenbogen zu kratzen.
Das Paar wartete.
Der alte Meister murmelte das Mani-Mantra. Maili massierte ein zartes Knie,
klein und weich wie das eines Kindes.
"Ich denke, Rinpoche-la hat alles gesagt, was er sagen wollte", sagte
sie.
Die beiden Besucher legten verwirrt die Hände aneinander und verabschiedeten
sich. Der Rinpoche rief zurück, zog ein Schutzbändchen unter seiner Robe hervor
und band damit das rechte Handgelenk des Mannes an das linke Handgelenk der
Frau. Dabei lachte er so sehr, dass sein kleiner, hervorstehender Bauch unter
dem Gewand hüpfte und seine Eingeweide sich hörbar befreiten.
1.
Ich gehe die Straße entlang.
Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig.
Ich falle hinein.
Ich bin verloren... Ich bin ohne Hoffnung.
Es ist nicht meine Schuld.
Es dauert endlos, wieder herauszukommen.
2.
Ich gehe dieselbe Straße entlang.
Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig.
Ich tue so, als sähe ich es nicht.
Ich falle wieder hinein.
Ich kann nicht glauben, schon wieder am gleichen Ort zu sein.
Aber es ist nicht meine Schuld.
Immer noch dauert es sehr lange, herauszukommen.
3.
Ich gehe dieselbe Straße entlang.
Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig.
Ich sehe es.
Ich falle immer noch hinein... aus Gewohnheit.
Meine Augen sind offen.
Ich weiß, wo ich bin.
Es ist meine eigene Schuld.
Ich komme sofort heraus.
4.
Ich gehe dieselbe Straße entlang.
Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig.
Ich gehe darum herum.
5.
Ich gehe eine andere Straße.
Zehn Kuchenstücke (aus: Samuel Widmer: "Die Liebe äußert sich ganz einfach")
Es waren einmal zehn wunderbare Kuchenstücke. Eines schöner und einladender als das andere. Kam jemand vorbei, wählte sorgfältig eins aus und ließ es sich munden. Die neun anderen fühlten sich beschämt und vertrockneten. Wie konnte er mich übersehen? Was ist an mir falsch, daß er mich nicht gewählt hat?